Mit dem heutigen Tag jährt sich die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz zum 80. Mal. – und nur noch wenige Überlebende und Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sind verblieben, die aus der Zeit des grausamsten Kapitels der deutschen und europäischen Geschichte berichten können. Auch und gerade in der heutigen Zeit ist es dem VfL Osnabrück ein Anliegen, an die Opfer des Holocaust zu erinnern – und Angebote zum außerschulischen Lernen zu unterstützen.

Nach 80 Jahren ist nicht überraschend, dass das kollektive Gedächtnis in Bezug auf den Holocaust innerhalb der Bevölkerung langsam unschärfer wird. Nur ein kleiner Teil der heutigen Großeltern-Generation hat noch Erinnerungen an die Zeit der NS-Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs. Und ungleich weniger Menschen haben noch direkte Erinnerungen an Verbrechen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft: Kaum jemand lebt noch, der das gesehen hat, was auch in Osnabrück durchaus zu sehen war, wenn man es denn sehen wollte: KZ-Häftlinge, die Zwangsarbeit bei der Beseitigung von Bombentrümmern leisten mussten, Deportationen, die bei helllichtem Tag den Hauptbahnhof verließen oder die allgemeine Entrechtung und Drangsalierung der jüdischen Bevölkerung. Und ebenso lebt kaum noch jemand, der all diese Torturen überlebt hat und noch davon berichten kann. Und die meisten derjenigen, die tatsächlich noch leben, waren zu dieser Zeit Kinder oder Jugendliche.

In den vergangenen Tagen erhielt allerdings eine Studie der Jewish Claims Conference breite mediale Aufmerksamkeit. Demnach bestünden vor allem in jüngeren Altersgruppen große Wissenslücken. Viele junge Menschen wüssten so zum Beispiel nicht mehr einen einzigen Namen eines NS-Vernichtungslagers. Dabei sind Majdanek, Sobibor, Treblinka oder Belzec wie Auschwitz-Birkenau Synonyme für den millionenfachen Völkermord. Auch die Zahl der mehr als 6 Millionen getöteten Menschen wird heute häufig falsch eingeschätzt oder sogar bewusst geleugnet. Relativerung und Revisionismus greifen gesellschaftlich um sich.

Ein Problem, das die Studie ebenfalls aufzeigt: Gerade vielen Schülerinnen und Schülern erscheint die Beschäftigung mit der Thematik in Zeiten immer seltener werdender Zeitzeugenvorträge als zu abstrakt. Der Holocaust aber auch der Nationalsozialismus werden als Themen empfunden, die nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich weit entfernt sind. Nur selten finden Exkursionen statt oder es werden reale Bezüge in der eigenen Stadt gesucht. Gerade anschauliche Beispiele aus der eigenen Lebenswelt sind geeignet, jungen Menschen die Thematik näherzubringen. Am besten gelingt dies durch ein Zusammenspiel aus Forschung und Vermittlung an außerschulischen Lernorten, wie es ihn auch an der Bremer Brücke gibt.

Beispiele aus der Nähe und persönliche Bezüge: Was ein Bombenangriff auf Osnabrück mit dem Schicksal von Juden aus dem Landkreis zu tun hat

Ein Beispiel für einen lokalen Bezug liefert daher das VfL-Museum:
Im Bestand des Museums befindet sich ein Mitgliedsausweis aus der Saison 39/40, ausgestellt auf den Reichsbahnarbeiter Ludwig Mazurkiewicz, mit seiner Familie wohnhaft in der Karlstraße 69.
Am 6. Oktober 1942 fand einer der schwersten Bombenangriffe der ersten Kriegshälfte auf Osnabrück statt. Ab 21.49 Uhr griff die Royal Air Force die Stadt mit dem Hauptziel des Reichsbahngeländes an und entlud 13 Luftminen, 400 Sprengbomben, 77 Phosphorkanister, 5.000 Phosphorbrandbomben sowie 10.000 Stabbrandbomben über der Stadt. Mit 40 Großbränden, 78 mittleren und 121 kleineren Bränden sowie den Zerstörungen durch Sprengbomben wurden über 3.500 Wohnhäuser zerstört oder beschädigt. 79 Menschen verloren ihr Leben, 159 wurden verletzt, über 2.000 wurden obdachlos. Dazu gehörte auch die Familie Mazurkiewicz. Sohn Heinz Mazurkiewicz, Jg. 1928 schrieb dazu: „Am 6. Oktober 1942 zerstörte eine britische Luftmine unsere Wohnung in Osnabrück, meiner Geburtsstadt. Nur mit dem Zeug, welches wir am Leib trugen und mit zwei Koffern, die wir mit in den Luftschutzkeller genommen hatte, kamen wir mittellos in Alfhausen an.“
Die Familie suchte also Zuflucht im Landkreis und kam zunächst bei Verwandten in unter. Nach kurzer Zeit bekam man jedoch eine andere Unterkunft zugewiesen, nämlich das sogenannte „Judenhaus“ der Familie Herz Meyer.
Die Familie Herz Meyer betrieb über Jahrzehnte einen Textilien-, später auch einen Viehhandel und galt als großzügig, hilfsbereit und korrekt, war patriotisch gesinnt und wollte nicht auswandern, obwohl sie früh unter den Nationalsozialisten zu leiden hatte. Nach der Pogromnacht 1938 waren Hugo und Siegfried Meyer – übrigens gemeinsam mit Felix Löwenstein – nach Buchenwald verbracht worden. Hier wurde Siegried Meyer am 22. November von SS-Leuten erschlagen. In den folgenden Jahren ging das Morden weiter. Rose de Jonge, geb. Meyer wurde ein Opfer der NS-„Euthanasie“ und in Brandenburg/Havel vergast. Ein Teil der Familie wurde ins Rigaer Ghetto verschleppt, andere kamen teils über Umwege nach Theresienstadt. Von da aus ging es für manche wiederum nach Treblinka, für andere nach Auschwitz. Mit Erna de Jonge, die sich in den Niederlanden versteckt hielt, erlebte aus dem engeren Familienkreis nur eine einzige Person, die nicht frühzeitig ausgewandert war.
Ca. zwischen 1940 und 1942 war das Haus Herz Meyer, in dem bis zu diesem Zeitpunkt nur noch Hugo Meyer lebte, auch die Heimat für ca. 20-30 andere Jüdinnen und Juden aus der Region geworden. Die Nationalsozialisten pferchten die noch nicht deportierten Menschen zusammen – auch um durch die Beschlagnahme jüdischen Besitzes Wohnraum für Ausgebombte zu gewinnen. Im Juli 1942 wurden alle Bewohnerinnen und Bewohner des „Judenhauses“ gen Osten deportiert – niemand von ihnen überlebte den Holocaust.
Heinz Mazurkiewicz, 1947 Mitbegründer des SV Alfhausen und später – zurück in Osnabrück – einige Zeit im Spielausschuss des VfL tätig, erinnerte sich an die Einquartierung: „Zum fraglichen Zeitpunkt war das Haus des Viehhändlers Herz-Meyer (Juden-Hugo) nicht mehr bewohnt. Kurz zuvor hatte man die hier untergebrachten Juden in ein Lager abtransportiert, wie man uns erklärte. Wie viele Zeitgenossen damals hatten auch wir keine Ahnung, was mit diesen bedeuernswerten Menschen geschehen sollte. Der Abtransport muss sie alle beim Einnehmen einer Mahlzeit überrascht haben, da das inzwischen verdorbene Essen noch in den Tellern auf dem Tisch stand.“
Auch mein eigener Großvater, Heinrich Kreutzmann, selbst als damals Jugendlicher wohnhaft im Alfhauser Ortsteil Thiene berichtete mir um das Jahr 2003 aus seinen Erinnerungen: „Bei uns im Dorf waren einige Juden. Die waren aber auf einmal von einem auf den anderen Tag verschwunden und wir haben die nie wieder gesehen.“ In heutigen Zeiten, in denen solche Zeitzeugenbefragungen wie damals im Rahmen des Schulunterrichts kaum mehr möglich sind, sind es vielleicht genau diese Überlieferungen, die jungen Menschen einen besseren Zugang zu den Ereignissen des Holocaust bieten – mit Bezügen zu heute noch existierenden Gebäuden, Vereinen oder Straßennamen. Denn dieser fand zwar zu großen Teilen in den Vernichtungslagern im Osten statt – begann aber oft vor unseren Haustüren.

Wir möchten alle VfL-Fans deshalb herzlich dazu einladen, sich mit den Biographien der durch das NS-Regime Verfolgten und Getöteten auseinanderzusetzen und empfehlen dazu den Stolperstein-Guide.

Wer darüber hinaus Stolpersteine reinigen möchte, kann sich im VfL-Fanshop an der Bremer Brücke ein kostenloses Putzpäckchen vom Bündnis Tradition lebt von Erinnerung abholen, das alles Notwendige hierzu enthält.


Text: David Kreutzmann
Foto: Haus Herz Meyer um 1900