Er spielte nur ein einziges Jahr für den VfL und hat doch bis heute einen festen Platz im Herzen der lila-weißen Fußballfamilie. Wolfgang Kaniber, der Stürmer mit dem untrüglichen Torriecher, brauchte gerade einmal 12 Monate, um sich mit spektakulären 33 Treffern in der Vereinshistorie zu verewigen. Heute wäre er 85 Jahre alt geworden.

Sommer 1968: Vom Glanz der alten Oberligazeiten ist nicht mehr viel übriggeblieben. Der VfL dümpelt im Mittelfeld der Regionalliga Nord. Nur noch selten kommen mehr als 3.000 Zuschauer an die Bremer Brücke, und Hans-Wilhelm Loßmann, der Architekt einer runderneuerten, erfolgshungrigen Mannschaft, hat sich mit Präsident Friedel Schwarze überworfen und ist gerade zum zweiten Mal entlassen worden.

Der neue Chefcoach Radoslav Momirski will das Blatt wenden und setzt dabei unter anderem auf die Dienste eines 28-jährigen Stürmers, der für TuRa Büderich Tore am Fließband geschossen, aber gerade seinen ersten Profivertrag unterschrieben hat. Rund 7.000 (vermutlich überwiegend skeptische) Zuschauer finden am 18. August den Weg ins Stadion, um das Auftaktspiel gegen den Vizemeister Göttingen 05 zu begutachten. Und schnell ist klar: Wer heute zuhause geblieben ist, wird es lange bereuen.

Einmaliger Spielrausch?

In der 14. Minute holt der Neue mit der Nummer 9 einen Elfmeter heraus, den Friedhelm Holtgrave zum 1:0 verwandelt. Nach dem 2:0 durch Karl-August Tripp erzielt Wolfgang Kaniber dann seinen ersten Treffer für den VfL, ehe Siggi Müller auf 4:0 erhöht. Doch bei der komfortablen Pausenführung lassen es die Lila-Weißen nicht bewenden. Kaniber markiert auch das 5:0, und Schröder, Wöbker und Mumme tragen sich ebenfalls noch in die Torschützenliste ein. Nach 90 Minuten heißt es 8:0 für den VfL. Die Zuschauer sind ebenso fassungslos wie die unglücklichen Göttinger und die Vertreter der Presse. „Ist es eine Eintagsfliege? Sind acht Tore das Produkt eines einmaligen Spielrausches?“ fragt der „sport report“ am Tag danach.

Die Lila-Weißen geben die Antwort auf dem grünen Rasen. Sie gewinnen auch die folgenden sieben Spiele und werden am Ende einer beispiellosen Saison mit neun Punkten Vorsprung Meister der Regionalliga Nord. Fast ein Drittel der 94 Saisontreffer geht auf das Konto des in Büderich entdeckten Stürmers, der auch in der Aufstiegsrunde zur Bundesliga dreimal erfolgreich ist. Der groß gewachsene, zweikampfstarke Wolfgang Kaniber gehört nicht zu den überragenden Technikern, aber den Weg zum Tor findet er (fast) immer, und in dem Bereich, den die Sportwissenschaft heute Handlungsschnelligkeit nennt, macht ihm niemand etwas vor. Die Fans, die immer zahlreicher zur Bremer Brücke strömen, haben einen neuen Liebling gefunden. „Ka-Ka-Kaniber“ halt es von den Rängen! In der Aufstiegsrunde kommt der VfL der 1. Bundesliga so nah wie nie zuvor – und seitdem nie wieder. Doch dieses Wunder kann selbst der Ausnahmestürmer nicht vollbringen, zumal er beim legendären 3:3 gegen Rot-Weiß Essen auch noch wegen einer Knieverletzung pausieren muss.

Von Würzburg über Osnabrück nach Straßburg

Wolfgang Kanibers Laufbahn begann im zarten Alter von sechs Jahren. Der Vater war Präsident der Würzburger Kickers, für die auch Bruder Erich spielte, der später zum VfB Stuttgart wechselte. „Wir waren eine richtige Fußballhochburg zuhause“, erinnerte sich Kaniber in einem Gespräch mit dem Autor dieses Artikels, das im Jahr 2011 stattfand. Er selbst durchlief in seiner Geburtsstadt die Jugendmannschaften, ehe er den Bundeswehrdienst antrat und nebenbei für Bad Reichenhall und Inzell auf Torejagd ging. Nach einem kurzen, wenig ertragreichen Zwischenstopp bei Fortuna Düsseldorf wechselte der Stürmer an die Bremer Brücke, wo ihn nach dem sensationellen ersten Jahr zahlreiche Anfragen aus dem In- und Ausland erreichten.

Kanibers Vater, ein passionierter Ahnenforscher, hatte derweil herausgefunden, dass die Familie ursprünglich aus Frankreich stammte. Sohn Wolfgang unterschrieb auch deshalb 1969 einen Vertrag beim französischen Erstligisten Racing Straßburg und brachte dem VfL eine stattliche Ablösesumme ein. „Genau weiß ich es wirklich nicht, aber in Straßburg hat man gemunkelt, dass es deutlich mehr als 100.000 Mark waren“, erinnerte sich Kaniber später. In jedem Fall fand er sich auch auf französischem Boden gut zurecht und avancierte zur ernstzunehmenden Konkurrenz für die Topstürmer Hervé Revelli oder Salif Keïta (beide St. Etienne).

1971 kehrte Wolfgang Kaniber nach Deutschland zurück. Der gelernte Bankkaufmann, der in Düsseldorf und Osnabrück für die jeweiligen Sparkassen gearbeitet hatte, übernahm einen Posten in der Finanzbuchhaltung des Autobauers Opel und erzielte nebenbei noch einige Treffer für den Werksverein Opel Rüsselsheim, der in der zweitklassigen Regionalliga Süd antrat. Nach einer Meniskusoperation verließ Kaniber die große Fußballbühne, war aber weiterhin als Spieler und Trainer aktiv. Gleich dreimal musste er den VfR Groß-Gerau vor dem drohenden Abstieg retten, zwischendurch profitierten Vereine in Nauheim, Nierstein oder Königstein von seinen langjährigen Erfahrungen. In der Saison 1983/84 absolvierte er selbst noch einmal 15 Ligaspiele für Groß-Gerau. Doch dann beendete der Stürmer, der an einem Schienbeinbruch, zwei Kreuzbandrissen und ständigen Knieprobleme laboriert hatte, seine aktive Laufbahn. Dem Fußball blieb Kaniber trotzdem treu. Nachdem er bereits Trainer für den Hessischen Fußballverband ausgebildet hatte, nahm er 1999 ein zweites Angebot aus dem europäischen Ausland an. Bis 2005 war der inzwischen pensionierte Finanzbuchhalter Cheftrainer einer Fußballschule in London.

Seitdem spielte der Ausnahmestürmer nur noch Golf. Doch die Begeisterung für den Verein, bei dem er lediglich ein einziges Jahr verbrachte, pflegte er weiterhin – auch durch Besuche an der Bremer Brücke. Nur der FC Groß-Rohrheim, wo Enkel Sascha in die Fußstapfen des berühmten Opas trat, konnte dem VfL die Sympathien zeitweise streitig machen. Am 9. April 2021 starb Wolfgang Kaniber im Alter von 81 Jahren im südhessischen Büttelborn.


Text: Thorsten Stegemann

Bild: Wolfgang Kaniber (r.) mit VfL-Trainer Radoslav Momirski, NOZ-Archiv