Das VfL-Bündnis „Tradition lebt von Erinnerung“ widmet sich derzeit gemeinsam mit dem Verein „Gedenkstätten Augustaschacht und Gestapokeller“ einem heißen Eisen der Stadt-geschichte. Es geht in erster Linie um das ehemalige Lager in der Gartlage, dessen Baracken in Kriegszeiten in direkter Sichtweite zu jenem Ort zu finden waren, wo der VfL seine größten Vorkriegstriumphe feierte. Der frühere Lagerstandort überschneidet sich außerdem mit jenen Flächen, auf denen ein neues Fußball-Leistungszentrum des VfL geplant ist. Das VfL-Bündnis sucht Zeitzeugen und Personen, die an einer Mitarbeit interessiert sind.
Die alte VfL-Heimat
Man schreibt den 26. Februar 1939. Der VfL Osnabrück schlägt in einem grandiosen Spiel den damaligen Deutschen Meister Hannover 96 mit 3:0 und ebnet den Weg zur Fußballmeisterschaft der Gauliga Niedersachsen, was zur Endrundenteilnahme zur Deutschen Meisterschaft berechtigt.
Der 4:2-Gruppensieg gegen den Konkurrenten Hamburger SV ist am 21. Mai 1939 das letzte Spiel, das an der Gartlage zu sehen ist. Es folgen die Aufgabe und der Abbruch des Platzes. Die „Kampfbahn Bremer Brücke“, nur ein paar Steinwürfe entfernt, steht als Nachfolgestadion bereit.
Zumal die neue sportliche Heimat optisch weitaus attraktiver ist, verfällt die Wehmut alter Gartlage-Freunde schnell. Nicht wenige wissen aber noch ebenso wehmütig als Zeitzeugen davon zu berichten, dass der Platz einst anno 1907 von Kickern des hiesigen Ballspielvereins von 1905 höchstpersönlich mit Schaufeln, Spitzen und Hacken hergerichtet worden war. Der vormalige BV 05 fusionierte dann ab 1919 mit dem FC 1899 und begann, nunmehr unter der neuen Bezeichnung Ballspielverein von 1899, an der Gartlage in Lila-Weiß zu spielen. Ab 1925, dies wissen eingeweihte Zeitzeugen nicht minder, erfolgte der Zusammenschluss mit dem Verein Spiel und Sport zum heutigen VfL.
Heimstadt der Kicker wird auch für die Folgejahre der Platz südlich der Langen Wand in der Gartlage. Alles summiert sich bis 1939 auf immerhin 32 Jahre Vereinsgeschichte. Wird heutzutage, völlig unabhängig von sehr legitimen ökologischen Bedenken, von einem neuen Fußball-Leistungszentrum in der Gartlage geredet, umspannt die Debatte in der Tat Flächen, die mit der Frühgeschichte des VfL sehr eng verflochten sind.
Baracken, Stacheldraht und Militärposten
Zurück in die Zeit nach der Platz-Aufgabe: Was in den Folgejahren auf dem ehemaligen VfL-Platz geschieht, bleibt in der lokalen Geschichtsschreibung meistens verborgen. Tatsache ist: Ab 1942, der Zweite Weltkrieg ist mit all seinen Leiden in das dritte Jahr getreten, beziehen rund 1.300 Zwangsarbeiter aus der damalige Sowjetunion 16 längliche Holzbaracken, die entweder in Windeseile in der Nähe des alten Sportareals zusammengezimmert werden oder bereits anderen zuvor als Behausung dienten. Durchschnittlich rund 81 Menschen hausen damit in einer einzigen Baracke. Umzäunt ist alles mit Stacheldraht. Bewaffnete Wehrmachtssoldaten sorgen mit Argusaugen und geladenen Gewehren dafür, dass niemand hinauskommt. Vor den Eingangstüren der Baracken sorgt dafür bereits ein Vorhängeschloss, dass nach Arbeitsende stets wieder neu angebracht wird.
Unerträgliche Lebensverhältnisse
In den Innenräumen der Behausungen türmen sich mehrstöckige Holzbetten. Ratten, Wanzen, Läuse und sonstiges Ungeziefer finden immer wieder den Weg in die Schlafstellen, die aus primitiven Strohsäcken und speckigen Decken bestehen. Als Toiletten dienen allenfalls stinkige Eimer. Die Ernährung besteht aus dosierten Brotstücken und wässriger Suppe. Die wöchentliche Arbeitszeit der Geschundenen beträgt am Kriegsende mindestens 72 Stunden. Absolviert werden die Arbeiten beim Osnabrücker Kupfer- und Drahtwerk (OKD) oder beim Aufräumen von Bombenschäden von den meisten in primitiven Holzschuhen. Das unförmige Schuhwerk macht das Fortkommen für all jene besonders schwer, die krank und erschöpft sind.
Nach aktuellem Forschungsstand befinden sich auch viele Frauen als Zwangsarbeiterinnen im Gartlager Lager. Ein weiteres Lager in der Gartlage beherbergt ebenfalls mehr als 1.000 Menschen aus der Sowjetunion, die unfreiwillig Zwangsarbeit leisten mussten. Nicht unweit des Geländes, in der ehemaligen, im Krieg ausgebombten Lutherschule am Rand der „Kampfbahn Bremer Brücke“, sind weitere 300 ukrainische Zwangsarbeiterinnen untergebracht. Den Nazis ist es allemal lieber, den angeblich „rassisch minderwertigen“ Zwangsarbeiterinnen in den örtlichen Betrieben anstrengende Arbeit zuzumuten. Der Platz „arischer“ deutscher Frauen soll, wenn irgend möglich, daheim an Heim und Herd sein. Viele der sogenannten „Ostarbeiterinnen“ arbeiten unter anderem in der Munitionsfabrik am Limberg, wohin Gleise für Transportmöglichkeiten sorgen. Kommt es unter Zwangsarbeiterinnen zur Geburt von Kindern, werden die Neugeborenen wie ihre Mütter kaum wirklich betreut. Noch heute künden zahlreiche Kindergräber, unter anderem auf dem Heger Friedhof, vom furchtbaren Schicksal der Betroffenen.
Bewegen sich bewachte Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter mit ihren laut klappernden Holzschuhen durch die Straßen der Stadt, zeigen einige in ihrer Verzweiflung echten Mut: Sie riskieren mit bloßen Händen hektische Gesten in der Höhe geöffneter Münder, die den zuschauenden Osnabrückern verzweifelt den Hunger der Vorbeiziehenden signalisieren. Zuweilen fliegen dann tatsächlich Brotstücke in die Menge und werden von den Fängern, soweit sie nicht von ihren Bewachern oder uniformierten Nazis am Straßenrand dabei beobachtet werden, hastig in der Kleidung verstaut. Wer dabei erwischt wird, sich „illegal“ Nahrung besorgt zu haben, riskiert eine sofortige Misshandlung sowie die Deportation in das „Arbeitszuchtlager“ Augustaschacht am Hüggel. Dort wiederum herrschen Bedingungen, die noch weitaus schlimmer sind als an der Gartlage und mit denen in einem KZ durchaus verglichen werden können.
Osnabrück: eine ungewollte Vielvölkerstadt
Da die militärischen Bewacher penibel aufpassen, kommt es auf den Straßen selten zu solchen Begegnungen, die wir heute „multikulturell“ nennen. Denn immer wieder ziehen auch Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter zu ihren Arbeitsplätzen, die aus ganz unterschiedlichen Ländern kommen.
In aller Regel sollen sie, meist willkürlich an ihrem Heimatort verhaftet und zwangsdeportiert, jene deutschen Männer ersetzen, die an der Front für „Führer und Vaterland“ kämpfen.
In den rund 100 (!) Osnabrücker Lagern für Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, männlich wie weiblich, leben rund 10.000 Menschen, die ihr Schicksal als Kriegsgefangene oder Zivilisten aus der Sowjetunion, Frankreich, Polen, den Niederlanden, Belgien und andernorts nach Osnabrück geführt hat. Lager mit sowjetrussischen Insassen sind besonders groß. Neben den beiden in der Gartlage besteht noch eines am Piesberger Steinbruch, in dem 2.000 Gefangene drangsaliert werden.
Nach der Befreiung durch die Briten am 4. April 1945 werden alle ehemaligen Lagerinsassen jene „Displaced Persons“ bilden, die sich den Stadtraum mit rund 60.000 Verbliebenen der vormaligen Stadtbevölkerung sowie einigen Tausend Geflüchteten aus deutschen Ostgebieten teilen, was naturgemäß recht häufig zu gewaltsamen Konflikten führen wird. Dies wiederum ist eine gesonderte Erzählung wert.
Tragische Opferzahlen
Mindestens 300 Kriegsgefangene, Häftlinge oder Zwangsarbeiter werden in Osnabrück Opfer des Bombenkrieges. Die dezentral bereitgestellten, vorwiegend für Alt-Osnabrücker reservierten Beton-Bunker bleiben nicht selten für Nichtdeutsche verschlossen. Werden sie dennoch infolge des kargen freien Platzes hineingelassen, wird ihnen in der Regel vom NS-Bunkerwart allenfalls ein Stehplatz am Eingang zugewiesen.
Wie viele der Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen, ganz unabhängig von den Folgen des Bombenkrieges, infolge ihrer Mangelernährung, von Epidemien, Misshandlungen oder Überforderung am Arbeitsplatz ihr Leben verloren haben, bedarf in Osnabrück noch einer detaillierten Ermittlung. Bekannt ist, dass im Deutschen Reich von insgesamt 2,5 Mio. Zwangsarbeitern rund 625.000, mithin jeder Vierte, den Krieg nicht überlebt hat. Wollte man dieses tragische Zahlenverhältnis auf die Stadt Osnabrück übertragen, käme man auf rund 2.500 Tote.
Besonders die Zahl der zu Tode gekommenen Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion ist im Kontext der Opferzahlen des Krieges nahezu niederschmetternd: Rund 27 Millionen Männer, Frauen und Kinder haben dort Ihr Leben infolge des unerklärten Angriffskrieges der Wehrmacht verloren. Alle gelten für die Nazis als „rassisch minderwertige Untermenschen“, die zu vernichten sind oder die allenfalls als Sklaven für die „Herrenmenschen“ taugen. Als „Kommissare“ verdächtigte Offiziere werden in aller Regel sofort ermordet. Jeweils zur Hälfte hat die hohe Todeszahl in der Sowjetunion die Angehörigen der Zivilbevölkerung und der Roten Armee betroffen. Die Todesrate hat damit mehr als ein Zehntel der Gesamtbevölkerung betragen. Um einen aktuellen Vergleich in Erinnerung zu rufen: Die genannte Opferzahl der Sowjetunion ist höher als die aktuelle Bevölkerungszahl Australiens!
Eine besonders hohe Todesrate verzeichnen Kriegsgefangenenlager: Hier lassen die Nazi-Offiziere 3,3 Mio. (!) von 5,7 Mio. Gefangene als „unwertes Leben“ erbärmlich sterben, indem sie ihren schlichtweg die Nahrung und jede Form medizinischer Betreuung entziehen.
Überlebende werden ab 1942 wiederum vielfach zu Zwangsarbeitern, deren Leid, wie oben beschrieben, ebenfalls bis zur Befreiung kein Ende gefunden hat.
Aufgabe der Erinnerungsarbeit
Das Bündnis „Tradition lebt von Erinnerung“, dem neben Einzelpersonen das VfL-Museum, die VfL-Fanabteilung, die Violet Crew und das Osnabrücker Fanprojekt angehören und das sich bei weiteren Aktionen eng mit dem Verein Gedenkstätten Augustaschacht und Gestapo-Keller abstimmt, möchte seine Forschungen zum Thema in Zukunft vertiefen. Am Ende könnte ein öffentlich zugänglicher Gedenkort stehen. Angedacht ist jetzt unter anderem die Befragung noch lebender Zeitzeugen, Öffentlichkeitsarbeit sowie die Sichtung von auffindbaren Plänen, Fotos und Dokumenten. Wer sich beteiligen möchte, ist herzlich dazu eingeladen, mit dem Fanprojekt unter der Adresse https://fanprojekt-osnabrueck.de in Kontakt zu treten.
Wichtige redaktioneller Hinweis: Dieser Beitrag wurde zum Ende April 2021 aufgrund neuer historischer Erkenntnisse der AG Spurensuche des VfL-Bündnisses „Tradition lebt von Erinnerung“ sowie des Vereins „Gedenkstätten Augustaschacht und Gestapokeller“ aktualisiert und erweitert.
Text: Heiko Schulze
Fotos: Arbeit und Leben Osnabrück; VfL-Museum